Wieviel Erde braucht der Mensch

Die gegenwärtige Geopolitik kreist um die Ukraine. Das Land, das mitten in Europa immer nur am Rand war. Das Land, dem in der internen Arbeitsteilung zweier Großmächte – Nazideutschland und UDSSR – eine Rolle als „Kornkammer“ zugewiesen werden sollte. Das Land, in dem sich vor fast 30 Jahren der GAU ereignete – als europäische Katastrophe.
Die gesteigerte mediale  Aufmerksamkeit geht mit einer Schwemme von Bildern einher. Die Krise wird medial ausgebeutet und die Berichterstattung in massenmedialen Formaten kann ihr ideologisches Gepräge kaum verbergen. Die aktuellen Bilder aus der Ukraine sind politische und transportieren, in welche Richtung auch immer, klare Botschaften.
Das wird der Komplexität der Ukraine nicht gerecht. Dort überlappen und überlagern sich nicht nur verschiedene politische Traditionen sondern Zeiten, Geschwindigkeiten und Lebenswelten. Geschichte ist immer – dort besonders – eine Schichtung von verschiedenen Spuren, Einschreibungen und Mythen in der Gegenwart.
Auch geopolitische Grenzverschiebungen fußen auf dieser Art Schichtung: „‚Die Akte der Grenzziehung‘, die mündlich überlieferten Verträge und Zusammenfassungen werden mit Bruchstücken aus früheren Geschichten verglichen und ‚zusammengeklebt'“ – schreibt de Certeau zum Zusammenhang von Raumpolitik und Mythos. So handfest sich jede neue Grenze manifestiert, sie überdeckt immer eine Mannigfaltigkeit von Geschichten.
Geschichte ist so auch Gleichzeitigkeit: Der pferdegepflügte Acker ist direkt neben der Transitstraße für internationale Logistik!

Unser Anspruch war, Bilder zu produzieren, die mehr Raum lassen für die Ambivalenzen und Zwischentöne des Landes. Auch wenn an der Oberfläche gerade politische Geschäftigkeit ausgebrochen ist, gibt es darunter noch etwas anderes.

Konzept
Der Ansatz für unsere erste Reise in die Ukraine fußte auf der Kurzgeschichte „Wieviel Erde braucht der Mensch“ des zuvor in Sewastopol stationierten Soldaten und Autors Lew Tolstois. Dieser Text sollte als Resonanzkörper und Spiegel der aktuellen politischen Ereignisse (Annektion der Krim) dienen. Auch dort geht es um Grenzziehungen – diesmal in ganz materiellem Sinne:
Uns interessierte daran vor allem die Bildwelt rund um das das Motiv Erde. Abgesehen von der starken bildlichen Haptik eröffnet sich darüber ein reichhaltiges Assoziationsfeld:

 1) TERRETORIUM
Territoriale Grenzen versehen bestimmte Räume mit sozialen Codes, Verhaltensvorschriften und Gesetzen. Ordnungsstrukturen und Räumlichkeit unterhalten rege Beziehungen. Dass diese Verknüpfungen jederzeit aufgelöst bzw. neubesetzt werden können, hat man an der blitzschnellen Übernahme der Krim sehen können.

2) HEIMAT
Erde ist das Symbol für heimatliche Verbundenheit und Identität. Von John Locke über Heidegger bis zu den aktuellen Gentrifizierungsdebatten zieht sich die Verbindung zwischen Identität und Boden, durch das kollektive Unbewusste Europas. Exzess dieser Trope ist die Blut und Boden Rhetorik der Nazis.
Für eine zweite Reise interessiert uns ein anderer Umgang mit dem Identität-Heimat-Komplex: Gibt es Spuren (Praktiken, Kulturtechniken) des anderen, eines nomadischen Umgangs mit Heimat? Oder ist das Revival des Nomadischen bei den digital Natives zu suchen?

3) BODEN
a)
Die Ukraine galt sowohl Hitler als auch Stalin und zuvor den polnischen Königen als zwar fruchtbare aber unmarkierte Erde, die urbar gemacht werden könne. Hitlers Phantasie die Ukraine als Kornkammer Europas ist symptomatisch für eine europäische Projektion, deren Ausläufer immer noch virulent sind. Die Ukraine erscheint als beschreibbare Fläche, die beschrieben werden muss. Inweit ist das Assoziierungsabkommen ein zivilisatorisches, eurozentrisches Projekt?
Gleichzeitig beansprucht Moskau die Ukraine als Ursprungsmythos – die Kiewer Rus. Panslawistische Denktraditionen vermischen sich hier mit Postsowjetischem Gewohnheitsrecht.

b)
Gerade unter diesem Vorzeichen bekommt der GAU in Tschernobyl eine neue Dimension. Auf fruchtbarstem europäischen Boden – der ukrainischen Schwarzerde – explodiert ein Atomkraftwerk, dass wiederum die Erde (nun materiell) neu codiert. Die Atomkerne zerschießen alles, was sich auf ihr befindet. Nun prägt die Erde das menschliche Leben – nicht mehr umgekehrt. Die terretoriale, zivilisatorische Maßnahme – der Bau eines Atomkraftwerks – schlägt in ihr Gegenteil um und schafft einen weißen Fleck mitten auf der europäischen Landkarte.

Mit diese Ausgangsfragen bahnten uns einen Weg durch die Ukraine, der nicht ungerichtet aber auch nicht allzu geradlinig war.  Am Ende sollen sich die Bilder zu einer Art mythischem Realismus verdichten.

Regie: Aron Kitzig

Kamera: Benjamin Breitkopf & Jonas Eisenschmidt

Dramaturgie: Joshua Wicke

Ton: Tillmann Rödiger

16mm Farbe, Digital, Found Footage